Integrative Zahnheilkunde (Archiv)

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Zwischen Waldorf-Idylle und Kassen-Irrsinn: Die Orientierung der Praxis an einem ganzheitlichen Bild des Menschen

Anthroposophische Zahnmedizin

Die naturwissenschaftlich geprägte Medizin um Inhalte zu ergänzen, die sich aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis ergeben, ist der Ansatz der Anthroposophischen Medizin. In der zahnärztlichen Praxis bietet sie Hilfen bei Diagnostik und Therapie sowie in der sozialen Begegnung mit Patienten, Mitarbeitern und Kollegen.

Von Rudolf Völker

Ganz ehrlich: Der Begriff „Ganzheitliche Zahnmedizin“ ist mir als Zahnarzt immer suspekt geblieben: Ab wann darf ich mich denn als „ganzheitlich denkend“ betrachten? Geht das überhaupt? Die simple Tatsache, dass an jedem Zahn immer auch ein ganzer Mensch hängt (jedenfalls bevor wir dies nach dem Django-Prinzip: „Keiner zieht schneller!“ im Einzelfall geändert haben...) reicht als Erkenntnis doch nun wirklich nicht aus, um uns ein ganzes Berufsleben hindurch vor Fachidiotie zu bewahren?! Die Kenntnis einiger Energiemeridiane aus der chinesischen Medizin und zum Beispiel einiger Spezialitäten der ayurvedischen Medizin (zwei gut tradierte asiatische Heilsysteme, die sich leider gelegentlich diametral widersprechen, zum Beispiel im Hinblick auf Sinn und Unsinn von Fleischkonsum [1]) kann zwar auch für uns Mitteleuropäer eine Bereicherung bedeuten: Zu einer „Ganzheit“ in der Wesensbetrachtung des Menschen fehlt dann aber immer noch ein Stück. Oder?

Die Anthroposophische Medizin (Anthroposophie – „Weisheit vom Menschen“) versteht sich als ein westlicher Weg zu einer Integrativen Medizin, die sich bemüht, die Erkenntnisse der naturwissenschaftlich geprägten Schulmedizin um wesentliche Inhalte zu ergänzen, die sich aus spiritueller Erkenntnis ergeben haben und die in Verwandtschaft stehen zu den lebendigen Ideen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter anderem zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft oder zu den in den Rudolf-Steiner-Schulen („Waldorfschule“) angelegten Sozialreformen führten.

Erarbeitete Lebenshaltung statt konsumiertes Wissen

Wie alle diese damals sehr grundlegenden, viel beachteten und bis heute wirksamen Reformwerke muss auch die Anthroposophische Medizin ihren Weg suchen, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in einer (auch wissensmäßig) globalisierten Welt zu begegnen und Antworten zu geben auf die Fragen, die uns heute bewegen [2]! Auch für Zahnärzte gibt es hier einiges zu entdecken, denn mit den Begriffen und den Heilmitteln der Anthroposophischen Medizin kann ich nicht nur spezielle Probleme im Praxisalltag besser bewältigen – ich kann auch Orientierung finden für die Diagnose und die grundsätzliche Ausrichtung meiner Therapie, meine soziale Begegnung mit dem Patienten oder das Menschenbild, das mich in der Organisation und im Umgang mit meinen Mitarbeiterinnen und Kollegen leitet („Netzwerk“[3]).

Gerade in den letztgenannten Punkten ist die Auseinandersetzung mit der Anthroposophischen Medizin allerdings keine schnelle und leicht verdauliche Fast-Food-Kost für ein Wochenend-Seminar, sondern will als spiritueller Weg in einem lebendigen Prozess erarbeitet und zu etwas Eigenem verwandelt werden [4]. Lohn der Arbeit ist ein absoluter Autonomie- und Erkenntnisgewinn, wie er sich nur in der Erziehung zur Selbständigkeit des Denkens entwickeln kann!

Geisteswissenschaft (Anthroposophie)

erfordert einen gewissen inneren Mut,
einen gewissen Willen zur Sinnesänderung,
zu demjenigen, was an Willenskräfte appelliert, die tiefer hinabsteigen, als das heutige Denken gewohnt ist,
die aber gerade die Forderungen der Naturwissenschaft voll erfüllen und am allerwenigsten in eine nebulöse Mystik hineinführen.

                                                                                                                                                      Rudolf Steiner (1861-1925)

Anthroposophische Zahnmedizin will eine menschliche, eine am Menschen orientierte Medizin hervorbringen. „Was hat meine Krebs-Erkrankung mit mir selbst zu tun?“, fragt der ehemalige SPIEGEL-Asienkorrespondent Ticiano Terzani seine Ärzte in New York – und bekommt dort zu seinem großen Bedauern keine Antwort. Und so fühlt er, obwohl er, der Asienkenner, sich bewusst für den westlichen Weg der Medizin entschlossen hat, ein stetes Unbehagen darüber, dass nicht mehr er selbst als Mensch Objekt der modernen Medizin ist, sondern stattdessen nur seine Krankheit [5]. Nehmen wir dies als Ausgangsbefund, um uns dem umfassenderen Menschenbild zu nähern, das die Anthroposophische Medizin beschreibt: In einer anthroposophischen Klinik  hätte man Terzani seine Fragen möglicherweise beantworten können – dann hätte er allerdings möglicherweise auf seine an die Chemotherapie anschließende Weltreise auf der Suche nach Antworten verzichtet, und die Welt wäre um dieses lesenswerte Buch ärmer geblieben...

Wodurch wirkt Medizin?

Nach Helmut Kiene vom „Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie“ ist die Wirksamkeit einer Medizin abhängig von vier Faktoren:

  1. dem Stoff
  2. der Empathie des Arztes
  3. der Compliance des Patienten
  4. der Sinnhaftigkeit der Behandlung – und zwar aus der Sicht des Patienten!

Erst das Zusammenspiel dieser vier Teilbereiche bewirkt „evidence“, also einen spür- und messbaren Erfolg! Der Patient steht nur dann wirklich im Mittelpunkt unserer Bemühungen, wenn es uns ernst ist mit der Beachtung eines freiheitlichen Menschenbildes, das in den letzten Jahren zunehmend wieder wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ideologischen Bedrohungen ausgesetzt ist!

"Der Arzt muss sich an der Erhöhung des Daseinswertes seines Patienten orientieren unter striktester Beachtung seiner Selbstbestimmungsfähigkeit und -möglichkeit. Er hat die Aufgabe, dem Kranken zu helfen, seinen Freiheitsgrad so weit wie möglich zu erhöhen. Die beiden Pfeiler, die Liebe zur Wahrheit und die Liebe zum leidenden Menschen, sollen die Motive sein, die unsere Arbeit leiten."

Gerhard Kienle,
anthroposophischer Arzt und Mitbegründer des Gemeinschaftskrankenhauses und der Freien Universität Witten/Herdecke

So macht es wenig Sinn, Beschwerden von Patienten über Materialprobleme in unserem Fachgebiet voreilig in die psychosomatische Ecke zu verbannen! Denn erstens haben wir noch lange keinen echten Begriff davon, wie denn der Übergang von der einen, schulmedizinisch gut fassbaren Ebene, dem Soma, und der anderen, weit weniger gut definierten Ebene, der Psyche („Seele“/“Geist“), überhaupt vonstatten gehen soll!

Und zweitens haben wir, wer wüsste dies besser als wir „ganzheitlich tätigen“ Zahnmediziner, oft noch nicht einmal auf der somatischen, der physischen Ebene einen wirklichen Überblick über alle toxischen, mikrotoxisch-enzymatischen und immunologischen Auswirkungen unserer Anwendungen!

Wer hier zu einer echten Zusammenarbeit mit seinen Patienten kommen möchte, ohne diese schnell und unbemerkt zum Objekt zu degradieren, kommt um die Erarbeitung eines umfassenden, wertschätzenden Menschenbildes nicht herum: Anthroposophie will hier eine Hilfe bieten, die auch bei schwierigen Grenzfragen der Medizin - die wir in der Zahnheilkunde erfreulicherweise nicht ganz so häufig streifen wie die Kollegen einiger anderer medizinischer Fachdisziplinen - eine verlässliche Orientierung bieten kann. Außerdem halten die pharmazeutischen Hersteller anthroposophischer Medikamente, die WALA und die WELEDA, neben den heute besser bekannten Körperpflege-Produkten seit Jahrzehnten einen hochkomplexen und fundierten Arzneimittelschatz bereit, der auch für unser Fachgebiet viele Spezialitäten bereit hält! 

Wie erlangt man Kenntnisse der Anthroposophischen Zahnmedizin?

Es ist nicht immer einfach, in der Einzelpraxis neben den vielschichtigen Aufgaben des Praxisalltags auch noch eine „Erweiterung“ der Sicht- und Behandlungsweise einzuführen - und durchzutragen! Manche anthroposophischen Zahnärztinnen und Zahnärzte haben durch Zusammenarbeit mit anderen Kollegen oder auch Menschen in artverwandten Berufen Freude daran gewonnen, sich hier vorwärts zu bewegen.

So entstand zum Beispiel das Buch „Wackeln die Zähne – wackelt die Seele“[6] aus der praktischen Zusammenarbeit einer Zahnärztin mit einer Heilpädagogin: Es ergänzt das sehr grundlegende Werk des anthroposophischen Arztes Armin Husemann über die seelischen Zusammenhänge des Zahnwechsels [7] ganz lebensnah und doch gut fundamentiert.

So wie die (ebenfalls anthroposophisch orientierte) Demeter-Landwirtschaft trotz des Angebotes naturgesunder Produkte heute Gefahr läuft, zwischen Agrarpolitik und Genversuchen zerrieben zu werden, so ist auch der Betrieb einer Zahnarztpraxis mit einem menschenfreundlichen Ansatz heute ein Prozess geworden, den wir nur in gemeinsamer entschlossener Initiative werden in die Zukunft tragen können! Deshalb haben sich anthroposophisch orientierte Zahnärzte in eine Fachgruppe innerhalb der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte Deutschlands (GAÄD) zusammen geschlossen, um sich gemeinsam fortzubilden und sich für den Erhalt bzw. Ausbau der anthroposophischen Ansätze in der Zahnmedizin einzusetzen.

Diese Initiative steht allen Kollegen offen, die in ihrem Beruf über den Kavitätenrand hinaus blicken und zum Beispiel ihren Begriff von „Geist und Seele“ erweitern möchten, denn  der Mensch, der da – viel zitiert – am Zahn hängt [8], ist das vielschichtigste und interessanteste  Wesen, das wir uns vorstellen können (und geht in seiner Vielschichtigkeit durchaus auch über das hinaus, was wir uns mit unserem an Zeit und Raum geketteten Begriffen überhaupt nur vorstellen können! Wir wollen nicht so tun, als wären wir Hellseher – und auch diejenigen, die hierin Fähigkeiten entwickelt haben, sehen immer nur - bis zur nächsten Biegung des Flusses).

Die anthroposophische Betrachtungsweise möchte dazu beitragen, den Menschen in einem zielgerichteten Weltzusammenhang zu sehen in einer evolutionären Bewegung hin zur Entwicklung der Freiheit. Wir werden diese Freiheit aktiv weiter entwickeln und verteidigen müssen, wenn sie uns nicht verloren gehen soll. Beginnen wir, am besten mit der Therapiefreiheit in unseren Praxen!

Literatur:

[1] Moorjani, Anita
Heilung im Licht. Wie ich durch eine Nahtoderfahrung den Krebs besiegt und neu geboren wurde.
p. 211: Arkana, München 2012.

[2] Kiene, Kienle, Albonico
Anthroposophische Medizin in der klinischen Forschung: Wirksamkeit, Nutzen, Wirtschaftlichkeit, Sicherheit.
Schattauer, Stuttgart 2006.

[3] Glasl, Friedrich
Das Unternehmen der Zukunft – Moralische Intuition in der Gestaltung von Organisationen.
Freies Geistesleben, Stuttgart 1994.

[4] Menzel, Völker
Gesunde Zähne – eine lebenslange Herausforderung.
Gesundheit aktiv. Anthroposophische Heilkunst e.V., Bad Liebenzell 2009.
ISBN 978-3-92644-483-7

[5] Terzani, Tiziano
Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben.
p.104-112. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005

[6] Kiel-Hinrichsen, Kviske
Wackeln die Zähne – wackelt die Seele. Der Zahnwechsel. Ein Handbuch für Eltern und Erziehende.
Urachhaus 2004.

7 Husemann, Armin
Der Zahnwechsel des Kindes. Ein Spiegel seiner seelischen Entwicklung.
Freies Geistesleben 1996.

8  Runte, Helge
... und an den Zähnen hängt der Mensch - das Wesen einer ganzheitlichen Zahnheilkunde.
Gesundheitspflege Initiativ, Esslingen 2000.
ISBN 978-3-932161-34-6 

Autor:

Dr. med. dent. Rudolf Völker

Barmbeker Straße 27 B
D- 22303 Hamburg

www.drvoelker.net