Integrative Zahnheilkunde (Archiv)

Die Inhalte dieser Seite werden seit 2008 nicht mehr aktualisiert.

Agenda Integrative Zahnmedizin 2015

Von Christoph Arlom, erschienen in: GZM – Praxis und Wissenschaft, 14. Jg. 2/2009.

In universitären Strukturen etablieren sich integrativ medizinische Konzepte. Denkanstöße für eine integrative Zahnmedizin gibt der vorliegende Artikel.

Kulturwissenschaftler unterscheiden zwischen Volksmedizin, Therapien durch Heilpraktiker, und Komplementärmedizin. Letztere lehrt eine Synthese ärztlich bewährter Methoden – und steht demnach nicht im Widerspruch zur konventionellen, pathogenetisch orientierten Medizin. Komplementäre medizinische Verfahren ergänzen konventionelle viel mehr durch eine salutogenetische Sichtweise: Autoregulation, Selbstheilungskräfte und die Selbstverantwortung der Patienten werden betont.

In der Schweiz ist die Komplementärmedizin ein exakt definierter Begriff, seitdem dieser Behandlungszweig per Volksentscheid Bestandteil der offiziellen Medizin ist und an der Universität Bern ein Lehrstuhl für Komplementärmedizin eingerichtet wurde. Hier werden unter dem Begriff Komplementärmedizin "Homöopathie, anthroposophische Medizin, Neuraltherapie, Traditionelle Chinesische Medizin und Akupunktur zusammengefasst“ (9).

Komplementäre systemische Zahnmedizin

Systemische Denkmodelle (14) bilden die Grundlage komplementär-medizinischer Methoden. Sie bieten umfassendere konzeptionelle Möglichkeiten für Prävention, Diagnostik und Therapie als linear-kausale Schemata. Aus integrativ-zahnmedizinischer Sicht können Materialunverträglichkeiten aus Füllungen, prothetischen Versorgungen und Implantaten, subakute und chronische Entzündungen im Kieferbereich, unterschwellige Belastungen der Körperstatik, ausgehend von funktionellen Disharmonien in Okklusion und Kiefergelenk, pathophysiologisch Bezüge zu Symptomatologien und deren Syntropien herstellen und somit das dynamische biopsycho-öko-soziale (6) System Mensch beeinflussen.

Die individuelle Konstitution ist entscheidend für die Etablierung von Befindlichkeitsstörungen oder manifestierten Krankheiten durch psychische Stressoren und toxische Noxen. Die klassisch gelehrte Zahnmedizin wird von etlichen niedergelassenen Kollegen im Praxisalltag um komplementärmedizinische Diagnostik und intergrierende Therapie erweitert. Das orofaziale System ist anatomisch, also makro- und mikromorphologisch und physiologisch unter regulationsbiologischen Aspekten als Teil des Organismus zu betrachten. Zahnärztliche Meridiandiagnostik – apparativ oder konsiliant erhoben – ist Teil der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), Regulationsmedizin eine andere Interpretation bekannter Physiologie. Verfahren der Traditionellen Europäischen Medizin, psychosoziale Kompetenzen und umweltzahnmedizinische Analytik bedürfen ebenfalls einer Integration (1).

Somit ermöglicht eine Integration komplementärmedizinischer Anamnese, Diagnose und Therapie in die gelehrte universitäre Konvention Zahnärzten einen erweiternden Blick auf komplexe chronifizierte Krankheitsbilder, Prävention und eine Besinnung die Zahnmedizin als Fachgebiet der Humanmedizin zu betrachten. Dabei ist die Grundlage einer Therapie immer die konventionell zahnärztliche konservierende, chirurgische und prothetische Rehabilitation.

Integrative Medizin

Der erste „Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin“ in Deutschland entstand 2004 aus der Modell-Einrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen, der Klinik Innere Medizin V, Naturheilkunde und Integrative Medizin am Akademischen Lehrkrankenhaus Kliniken Essen-Mitte unter der Leitung von Prof. Dr. Gustav Dobos. Ziel der Einrichtung ist die wissenschaftliche Evaluation von Verfahren aus der Naturheilkunde und der Traditionellen Chinesischen Medizin (5).

In der Berliner Charité eröffnete 2007 die Ambulanz für Prävention und Integrative Medizin (CHAMP). Das Konzept von CHAMP sieht vor, Patienten sowohl mit Methoden der Schul- als auch der Komplementärmedizin zu behandeln und den Behandlungserfolg dabei konsequent wissenschaftlich zu evaluieren (3).

Das Konzept der Integrativen Medizin: Was bedeutet Integrative Medizin?

Die Gruppe um Professor Dobos definiert den Begriff „Integrative Medizin“: Wir verstehen den Begriff „medizin metaphorisch“ und übersetzen ihn mit „Mehrsprachigkeit“. Der integrativ arbeitende Arzt bedient sich in sinnvollem
Zusammenspiel verschiedener medizinischer Verfahren der konventionell bewährten Medizin (der Begriff „Schulmedizin“ wird bewusst nicht gewählt, da er ursprünglich diskriminierend verstanden wurde), der angewandten Naturheilkunde und der Mind/Body-Medicine. Zugleich bezieht er aktive, verhaltensbezogene Verfahren (für den Zahnmediziner können das individualprophylaktische und ernährungsberatende Maßnahmen sein – Anmerkung des Autors) zur Krankheitsbewältigung mit ein. Vorurteilslos geht er auf die individuelle Situation des Patienten ein. Die Entscheidung für die jeweilige Therapie-Option trifft er unter Berücksichtigung der entsprechenden wissenschaftlichen Evidenz des entsprechenden Therapieverfahrens (externe Evidenz) und aufgrund der eigenen Erfahrungen als Arzt (interne Evidenz) (4).

Integrative Sicht: Beispiel Endodontie

Diese interne Evidenz hat für die Zahnmedizin maßgebende Bedeutung in Bezug auf die Endodontie (2) und damit auf regulationsmedizinische, meridianspezifische und Psychoneuroendokrino- immunologische (11) Zusammenhänge. Nach Haag (2005) werden in Deutschland jährlich 8 Millionen Zähne endodontisch versorgt. Demnach trägt nach zehn Jahren jeder Mitbürger einen potentiellen bakteriell infizierten Herd in sich.

„Mit Bezug auf einen Wu et al. im renommierten International Endodontic Journal erschienenen Grundsatzartikel über die bescheidenen Ergebnisse der Infektions-kontrolle bei Wurzelkanalbehandlungen nach dem international anerkannten Goldstandard der Endodontie-Spezialisten schreibt die Herausgeberin der Zeitschrift Endodontic Practice im Editorial der Mai-Ausgabe 2006 sinngemäß: Es ist als Endodontologe ausgesprochen deprimierend, die Tatsache akzeptieren zu müssen, dass weltweit mehr als die Hälfte (andere Quellen geben bis zu 85 % an (7, 12, 13) ) aller Wurzelfüllungen voller Bakterien sind und geradezu eine Epidemie von nicht ausgeheilten apikalen Knocheninfektionen existiert.“ (8)

Katamnestische regulations- und umweltmedizinische, immun- und meridian-spezifische Verlaufskontrollen (2) und eine Risikoaufklärung finden nur bedingt statt. Es geht um die Verantwortung dem Patienten gegenüber bei sich manifestierenden konventionell abgeklärten chronischen Krankheitsverläufen aus den Fachbereichen Orthopädie, Neurologie, HNO und anderen ein odontogenes Herdgeschehen als mögliche Ursächlichkeit mit einbeziehen zu können. Denn nicht die erfolgte Irritation (hier die Wurzelfüllung als Verfahren externer Evidenz) ist maßgebend, sondern die intern evident immanente individuelle systemische Reaktion.

Fazit

Jedes Wissen ist nur verständlich im Zusammenhang mit der Zeit, in der es er- und verarbeitet wird. Darum erscheinen herkömmliche Sichtweisen in demselben Rahmen, in dem komplementäre und damit integrative liegen. Daraus wird emergent ein komplexes Bild, das eine neue Konvention in der biomedizinischen Kenntnis erbringt (10) – eine biologische Oralmedizin als Amalgam zahnmedizinischer state of the art und Heilkunst?

Weiterführendes:

Integrative Zahnmedizin (pdf)
aus "Ärztezeitschrift für Naturheilverfahren", März 2006.

Agenda Integrative Zahnmedizin 2015 (Text als pdf)
aus "GZM – Praxis und Wissenschaft", 14. Jg. 2/2009.

Literatur:

1. Arlom C:  Integrative Zahnheilkunde – Vorschau auf Nachhaltigkeit. Zukunftsperspektiven einer ganzheitlichen Zahnheilkunde. In: GZM Praxis und Wissenschaft 2005;4:26–28.

2. Arlom C:  Aspekte einer integrativen Zahnheilkunde: Endodontie, odontogene Belastungen und komplementäre Kombinationsinjektion – im Focus einer Integrativen Zahnheilkunde. In: Ärztezeitschrift für Naturheilverfahren 2008; 1: 32–34.

3. Charité Ambulanz für Prävention und Integrative Medizin:
http://www.champinfo.de

4. Dobos G, Deuse U, Michalsen A:  Chronische Erkrankungen – integrativ, konventionelle und komplementäre Therapie. Urban und Fischer, München 2006.

5. Dobos G: Lehrstuhl für Naturheilkunde;
http://www.uni-duisburg-essen.de/naturheilkunde/de/index.php

6. Gesellschaft für Ganzheitliche ZahnMedizin e. V. Stellungnahme: Die Notwendigkeit systemischen Denkens, Entscheidens und Handelns in der Zahnmedizin. In: GZM Praxis & Wissenschaft (2004) 9(1): 46–51.

7. Hüneburg L: Histomorphologische Untersuchung zur apikalen Parodontitis nach Wurzelbehandlung; Med. Diss. Bochum 2003
http://deposit.ddb.de/cgibin/dokserv?idn=969868715&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=969868715.pdf

8. Osswald R: Kolumne Deppe vs. Osswald – Teil II. In: Dental Barometer. 2007;2: 12–21.

9. Roche Lexikon: Medizin; Urban und Fischer, München 2003.

10. Spranger H:  Fundamente Biologischer Oralmedizin. Abgenommen am 16. März 2009.
http://www.integrativezahnheilkunde.de/biologische-oralmedizin.html

11. Spranger H: Stressreaktion, Psychoneuro-endokrino-Immunologie und Grundsubstanz, Immun-Modulation zwischen Resistenzbarrieren und Grundsystem; Modul Regulationsbiologie, Lernfeld 6. College Inter-Uni Graz Schloss Seggau 2004.

12. Sunde E et al:  Flurescence in situ hybridization (FISH) for direct visualization of bacteria in periapical lesions of asymptomatic root-filled teeth; Microbiology 2003; 149:1095–1102.

13. Sundquist G:  Bacteriological studies of necrotic dental pulps.  Med. Diss. Umea/Sweden 1976.

14. Wühr E: Systemische Medizin und Systemische Zahnmedizin. In: GZM Praxis und Wissenschaft 2001; 1: 21–26. 

Autor:

Christoph Arlom

Calvinstrasse 23
10557 Berlin

Tel.: 030.3912228
Fax: 030.39103062

info@arlom.de
www.arlom.de