Integrative Zahnheilkunde (Archiv)

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Emotioneller Stress und Zahnmedizin aus Sicht eines Neurophysiopathologen

Von Karl Hecht, erschienen in: Zahnärzteblatt Westfalen-Lippe (ZBWL), 28. Jg., Nr. 5/2003, S. 33–37.

1. Einleitung

„Ich habe allen Sprachen ein neues Wort geschenkt - Stress!“ Dieses Zitat formulierte der Begründer der biologischen Stresstheorie Hans Selye (1). Er verweist damit auf die Tatsache, dass dieser Begriff in die Umgangssprache vieler Völker eingegangen ist und mit zu den am meisten gebrauchten Wörtern auf unserem Planeten überhaupt gehört. Viele Patienten, die z. B. einen Zahnarzt aufsuchen, bezeichnen diesen Besuch als „stressig“. Wohl jeder Zahnarzt kann berichten, dass er von Patienten unter Stress gesetzt worden ist.

Zum Stressbegriff gibt es in Fach- und Laienkreisen vielfältige und teilweise widersprüchliche Auffassungen. Von uns ist kürzlich ein Buch erschienen (2): „Emotioneller Stress durch Überforderung und Unterforderung.“ Die Unterforderung hatte bisher kaum jemand als Stressor beachtet. Die Raumfahrtmedizin beschäftigt sich damit aber schon seit Jahrzehnten und hat viele Erkenntnisse auch für unser irdisches Leben gewonnen.

Mit einem skizzenartigen Beitrag möchte ich nachfolgend aus meinen 40-jährigen Erfahrungen als Stressforscher wissenschaftliche Erkenntnisse über den emotionellen Stress vermitteln. Mit dem emotionellen Stress habe ich mich unter den verschiedensten Aspekten beschäftigt, z. B. unter dem der arteriellen Hypertonie, des Schlafs, der Raumfahrtmedizin, der Chronobiologie, der Neuropeptidregulation, der Psychophysiologie und auch unter dem Aspekt der Zahnmedizin. Ein großer Teil der von mir betreuten 45 Zahnmedizinischen Doktorarbeiten hat diese Problematik bearbeitet. Ein kleiner Teil dieser Ergebnisse wird in diesen Artikel mit eingehen.

2. Was verstehen wir unter emotionellem Stress?

Stressdefinition unter psychobiologischem und regulationstheoretischem Aspekt (3):

Emotioneller Stress = Zeitweilige oder dauerhafte Veränderungen der psychobiologischen Homöostase eines Menschen, wodurch eine Aktivierung und gleichzeitig eine Beanspruchung funktioneller Prozesse eines Organismus erfolgt

Homöostase = dynamisches, oszillierend verlaufendes inneres Gleichgewicht aller Regulationsprozesse, das die körperlich-geistig-seelische Harmonie eines Menschen gewährleistet

Stress = Psychobiologische Reaktivität = Beanspruchung funktioneller Systeme.

Stressor = Stressauslösende Faktoren exogener und endogener Natur = Belastung

Emotioneller Eustress wirkt als Beanspruchung sanogenetisch, adaptiv, regulierend. Emotioneller Dysstress wirkt als Beanspruchung pathogenetisch, maladaptiv, dysregulierend. Emotioneller Dysstress kann hervorgerufen werden durch Überforderung oder durch Unterforderung.

Bei Training von Eustress und Chronifizierung von Dysstress sind Konditionierungsmechanismen nachgewiesen worden
Emotioneller Dysstress durch Überforderung kann z. B. hervorgerufen werden durch:

  • Informationsüberangebot
  • Zeitdruck
  • Aggressivität, Ärger
  • Fehleinschätzung von Lebenssituationen
  • Ambivalente Konflikte, d. h. das gleichzeitige Auftreten von einander widersprechenden Gedanken, Vorstellungen, Emotionen (Gefühlen) und Willensregungen.

– Hass/Neid » Liebe
– Aggression » Unterwerfung
– Innere Wut » Abhängigkeit
– Gewährung » Ablehnung
– Wollen » Nichtkönnen

  • Entscheidungskonflikt
  • Unterdrückte Emotionen, z. B. Verschlucken von Ärger und nach außen freundlich
  • Selbstwerterlebenskonflikte, z. B. Selbstverachtung des Körpers bei Frauen
  • Objekttrennung oder -verlust, z. B. Scheidung, Tod, Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzverlust oder -wechsel
  • Ängste verschiedener Art
  • Mobbing
  • Konflikte mit der Zeit
  • Grübeln, Depressionen
    Emotioneller Dysstress durch Unterforderung kann z. B. hervorgerufen werden durch:

– Informationsdefizit
– Monotonie
– Einsamkeit
– Soziale Isolierung
– Bewegungsarmut
– Reizverarmung (sensorische Deprivation)
– Hunger
– Hypoxie (O2-Mangel)
– Defizit an Vitalstoffen (Mineralien, Vitamine usw.)

Emotioneller Dysstress ist vor allem durch sein chronisches Erscheinungsbild charakterisiert. Symptome von Dysstress sind: Fehlleistungen, Tagesmüdigkeit, Schlafstörungen, Fehleinschätzung von Situationen, Konzentrations- und Gedächtniseinschränkungen, schnelle Erregbarkeit und schnelle Erschöpfbarkeit.
Emotioneller Eustress ist dadurch charakterisiert, dass man sich nach Stunden hoher Anspannung durch Relaxation oder Minischlaf am Tage in kurzer Zeit regenerieren und erholen kann, ohne dass Leistungsverlust auftritt. Der Schlaf ist gewöhnlich qualitativ gut, auch wenn er kurz ist (4). Der adaptive Charakter des emotionellen Eustresses lässt sich unter bestimmten Zuständen trainieren.

3. Warum emotioneller Stress?

Abb, 1: Schematische Darstellung des funktionellen psychobiologischen Regulationssystems der Regulation
Abb, 1: Schematische Darstellung des funktionellen psychobiologischen Regulationssystems der Regulation

Hans Selye (5) und seine Schule betrachten Stress nur in engem Sinne, in dem sie die Achse: Hypothalamus – vegetatives System –  Nebennierenmark und die Achse: Hypothalamus – Hypophyse – Nebennierenrinde in den Mittelpunkt der Stressfunktion stellten. Vor Selye (5) hat aber bereits Cannon (6, 7, 8) die emotionelle Reaktion u. a. als Notfallreaktion und Lindley (9) die emotionelle Aktivierung, die eigentliche zutreffender ist als emotioneller Stress, beschrieben. Das Schema rechts charakterisiert den Funktionsprozess der psychobiologischen emotionellen Reaktion bzw. Regulation, in dessen Rahmen sich die emotionelle Aktivierung/der emotionelle Stress/die Beanspruchung abspielen kann.

Bei jeder Wahrnehmung, die durch exogene (z. B. Lärm) oder durch endogene (z. B. Denkprozesse, Schmerzen) Stimuli ausgelöst wird, erfolgt eine Aktivierung komplexer Hirnfunktionen. In einem Wahrnehmungs-Aktivierungsvorgang werden gewöhnlich Funktionen des Neokortex, des limbischen Systems, des Hypothalamus und der Formatio retikularis eingezogen. Infolge dessen kommt es zu einer emotionalen Reaktion, die sich im sogenannten autonomen Nervensystem, auch als Vegetativum bezeichnet, im hormonellen, immunologischen und auch motorischen Regulationssystem mehr oder weniger intensiv reflektieren kann (2, 3, 4, 6, 7, 8, 9). Die peripheren Funktionen bieten sich als Kontakte für Sensoren an, mit denen die emotionelle Reaktionen gemessen werden können.

Die Funktionskette: Informationsaufnahme – Wahrnehmung, Denken –  emotionelles Erlebnis (unter Einbeziehung unbewusster Vorgänge und Gedächtnisinhalte) – emotionelle Reaktion repräsentiert sich im Kortex – limbisches System – Formatio retikularis – Hypothalamus – periphere Systeme.

4. Was versteht man unter Emotionen?

Emotionen (Synonym: Gefühle) sind multifunktionelle flexible biopsychosoziale Prozesse, die den Menschen mit außerordentlicher Schnelligkeit auf Umwelteinflüsse und auf innere Stimuli adäquat reagieren lassen. Die Emotionen (Gefühle) zählen neben dem Gedächtnis zu den Hauptformen der Funktionsäußerungen des Gehirns.

Emotionen sind ein Indikator der anzeigt, ob die Einflüsse für ihn nützlich oder schädlich sind. Emotionen halten die Lebensprozesse in ihren optimalen Grenzen und schützen sie vor Zerstörungen.
Emotionen (Gefühle) haben drei funktionelle Komponenten:

  1. Emotionelles Erleben = subjektive Wahrnehmung
    angenehm, positiv, aktivierend
    unangenehm, negativ , deaktivierend
  2. Emotionelle Expression (Ausdruckformen)
    Haltung, Mimik, Gestik, Intonation der Sprache
  3. Anlasssystem der emotionellen Reaktionen
    vegetative, hormonelle, immunologische oder motorische Funktionen

Das Dominieren von positiven Emotionen eines Menschen hat nachweisbar gesundheits- bzw. präventive oder therapeutische Relevanz. Zu den positiven Emotionen zählen u. a. (Beispiele): Lebensfreude, Frohsinn, Fröhlichkeit, Optimismus, Glaube, Glück, Wille, Freude.

Die permanente Dominanz negativer Emotionen eines Menschen hat nachweislich Krankheitsrelevanz. Negative Emotionen stellen faktisch das dar, was als emotioneller Dysstress bezeichnet wird. Zu den negativen Emotionen zählen u. a. (Beispiele): Ärger, Angst, Furcht, Wut, Neid, Hass, Missgunst, Egoismus, Traurigkeit, Aggression, Pessimismus.

5. Zur Messung des emotionellen Stresses (der emotionellen Aktivierung)

Die Messung des emotionellen Stresses kann von allen vegetativen, hormonellen und immunologischen Parametern erfolgen. Noninvasive sind bevorzugt, weil jeder invasive Eingriff emotionellen Stress erzeugt.

Ein weiterer Faktor ist zu berücksichtigen: Messungen des emotionellen Stresses im tätigen, wachen, aktiven Zustand werden von verschiedenen Störfaktoren beeinflusst (Denken, Geräusche u. a.). Im Entspannungszustand erhält man brauchbarere Daten. Deshalb haben wir Entspannungstests eingeführt, die je nach Fragestellung 10-20 Minuten dauern können (10, 11), mit bewusster Wahrnehmung der Atemzüge durchgeführt werden und durch die die Relaxation bewirkt wird.

In angenehmer Atmosphäre, bei zuvor empfohlener bequemer Kleidung wird die Person geben halbliegend in einem Sessel platzzunehmen, mit geschlossenen Augen auf eine ruhige und gleichmäßige Atmung zu konzentrieren und dabei möglichst die Atemfrequenz als ein gedankliches Mitschwingen wahrzunehmen. Dabei empfiehlt es sich, die Hände flach auf den Bauch oder auf die Brust zu legen. Die meisten Untersuchten lernten es sehr schnell, sich gezielt in einen relaxierten Zustand zu versetzen und bauten gleichzeitig ein Vertrauensverhältnis zu dem untersuchenden Arzt auf.

Während der Relaxation wurde z. B. der in Impulse umgewandelte Hautleitwert oder der Blutdruck und die Herzfrequenz gemessen. Unter diesen Bedingungen ist es möglich, die gesamte Regulationsbreite des Individuums unter Ruhebedingungen und in gegebenem Falle auf der Grundlage einer Leistungsvereinbarung zu prüfen.

Der individuelle Grenzwert sowohl in der Richtung der Erregung (Stress) als auch in Richtung Relaxation lässt sich auf diese Weise bestimmen. Ohne Handlungseinschränkungen können so die individuellen Begrenzungen der Regulation in zwei Richtungen definiert werden: Relaxation und emotioneller Stress (Aktivierung). Gleichzeitig kann eine Aussage über die Fähigkeit wie ein Mensch mit Stress umgehen kann getroffen werden. Denn wer sich in jeder Situation zu relaxieren vermag, kommt meistens mit jedem Stressor zurecht. Es geht generell nicht darum keinen emotionellen Stress zu erleben, sondern mit emotionellem Stress gesund und unbelastet leben zu lernen damit kein Dysstress entwickelt werden kann.

Nachfolgende Beispiele sollen Ergebnisse demonstrieren, die unter diesen Messbedingungen gewonnen wurden.

5.1 Wer hat Angst vor der Spritze?

Wer hat Angst vor der Spritze?

Die Probanden hatten die Aufgabe, in der beschriebenen Weise zu relaxieren. Nach 10 Minuten des Relaxierens wurde mit einer Kanüle in die Kubitalvene eingestochen, um Blut zu entnehmen. Dieses bevorstehende Ereignis war den Untersuchten (120 junge Männer im Alter von 20-28 Jahren) bekannt. Während dieser Prozedur wurde der in Impulse umgewandelte Hautleitwert gemessen. Hohe Impulszahl: emotioneller Stress, niedrige Impulszahl: Relaxation. Das Ergebnis ist in Abbildung 3 wiedergegeben. Daraus wird ersichtlich, dass es auf denselben Stressor unterschiedliche Reaktionen im Verhalten und in den Blutparametern gab.

Die Abbildungen rechts zeigen Beispiele der individuellen Reaktivität auf den Einstich in die Kubitalvene (n=120). Die Probanden hatten die Anweisung, während der gesamten Untersuchungszeit zu Relaxieren
(+ Anstieg)
(= unverändert)
(- Abfall)
gegenüber internationalen Referenzwerten.

Stressempfindlicher Typ:
Katecholamine (+)
Kortisol (=)
Endorphine (=)
Substanz P (=)

Ängstlicher Typ:                  Typ mit Selbstbeherrschung:               
Katecholamine (=)                  Katecholamine (=)
Kortisol (+)                             Kortisol (=)
Endorphine (+)                        Endorphine (=)
Substanz P (-)                         Substanz P (=)

5.2 Blutdruckentspannungstest

Auch in diesem Test wurde um die Entspannung wie oben beschrieben gebeten, und zwar für die Dauer von 10 Minuten. In Interavallen von 1 Minute wurde automatisch der Blutdruck gemessen. Die gemessenen Zeitreihenwerte wurden mittels Regressionskoeffizienten analysiert und klassifiziert. Das Ergebnis ist in den folgenden Abbildungen dargestellt.

Relaxationsklasse 1: "Sehr gute Entspannung"
Relaxationsklasse 1: "Sehr gute Entspannung"
Relaxationsklasse 2: "Gute Entspannung"
Relaxationsklasse 2: "Gute Entspannung"
Relaxationsklasse 3: "Keine wesentliche Entspannung"
Relaxationsklasse 3: "Keine wesentliche Entspannung"
Relaxationsklasse 4: "Anspannungs-/emotioneller Stress
Relaxationsklasse 4: "Anspannungs-/emotioneller Stress

6. Der Blutdruckentspannungstest in der zahnärztlichen Praxis

Relaxationsklassen des Blutdruckentspannungstests in einer zahnärztlichen Praxis in Sachsen (12). Häufigkeitsverteilung (n=128):

Blutdruckentspannungstest: Relaxationsklassen: Häufigkeitsverteilung in einer ländlichen Zahnarztpraxis

Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass etwa 2/3 der Untersuchten sehr gut oder gut entspannen konnten. Das spricht für eine gute Führung der Patienten durch die Zahnärztin, die die Untersuchung durchgeführt hat.

7. Weißkitteleffekt in der zahnärztlichen Praxis

Aus der Humanmedizin kennt man den Weißkitteleffekt (13, 14, 15). darunter versteht man die Tatsache, dass Blutdruckmessungen in der ärztlichen Praxis oder in der Klinik gewöhnlich höhere Werte ergeben als in vertrauter Umgebung. Wir nahmen Untersuchungen mittels Blutdruckentspannungstest in mehreren zahnmedizinischen Einrichtungen vor mit dem Ziel, den Weißkitteleffekt zu prüfen.

Aus den Zeitreihen von 10 Messungen verwendeten wir den Ausgangswert (A) und den Entspannungswert (E; niedrigster Wert der letzten 5 Messungen des Blutdruckentspannungstests). Die Untersuchungen wurden in einer Stressberatungsstelle (13) in einer ländlichen Zahnarztpraxis (12), in einer großstädtischen Zahnarztpraxis (16) und in einer Universitätszahnklinik (17) durchgeführt. Die Ergebnisse sind vereinfacht in fachfolgender Tabelle angeführt.

Blutdruckentspannungstest in verschiedenen zahnärztlichen Einrichtungen
Blutdruckentspannungstest in verschiedenen zahnärztlichen Einrichtungen

Aus der Tabelle geht hervor, dass die Ausgangswerte des systolischen Blutdrucks erheblich gesteigert sind und dass innerhalb von 10 Minuten eine Senkung von 14-17,9 mmHg (als Mittelwert) erreicht werden kann. Der Entspannungswert gilt als der reale Blutdruck.
Wir können von den Ergebnissen ableiten, dass unter allen Untersuchungsbedingungen, d. h. auch in der zahnärztlichen Behandlung, ein Weißkitteleffekt bezüglich des Blutdrucks besteht oder anders ausgedrückt, dass angenommen werden muss, dass jeder Patient, der sich auf dem Behandlungsstuhl befindet, emotionell aktiviert ist. Durch Relaxation lässt sich die emotionelle Aktivierung gut „herunterfahren“, jedenfalls bei ca. 2/3 der Untersuchten.

8. Wie kann emotionelle Aktivierung (emotioneller Stress) in einer zahnärztlichen Praxis reduziert werden?

Weit verbreitet ist der Begriff „Stressbewältigung“. Dieser Begriff ist irreführend, wenn wir den emotionellen Stress als Funktion unseres Organismus und den Stressor als Verursacher definieren und zudem noch in emotionellen Eustress und Dysstress sowie die akute und chronische Erscheinungsform unterscheiden. Real ist, dass wir z. B. im akuten Fall von emotionellem Stress das Ausmaß der Aktivierung reduzieren, den hohen Aktivierungslevel senken oder die Homöostase adaptiv einstellen (einregulieren). Dass dies z. B. mit einfachen Entspannungstechniken möglich ist, konnten wir zeigen.

In der zahnärztlichen Praxis wird im Regelfall bei ansonsten gesunden Menschen der akute emotionelle Stress vorliegen, der durch die Ungewissheit, durch Schmerzen, durch Angst, durch die Erwartung von noch mehr Schmerzen usw. verursacht wird. Wie unsere Untersuchungen es zeigten, war der emotionelle Stress im Wartezimmer immer ausgeprägter als während der konservierenden Behandlung (16, 18, 19, 20).

Die Reduzierung der emotionellen Aktivierung in einer zahnärztlichen Praxis müsste unter drei Aspekten erfolgen:

  1. Im Wartezimmer
  2. Während der Behandlung
  3. Beim Zahnarzt und seinem Personal selbst

ad 1.  Im Wartezimmer:

1. Die Wartezeiten sollten so kurz wir möglich gehalten werden (z. B. durch Bestellsystem)
2. Über Lautsprecher: Anleitung zur Relaxation mit bewusster Wahrnehmung der Atmung mit Musikuntermalung. Der Atemrhythmus könnte durch den Rhythmus eines Glockenklangs getaktet werden (15-10/Minute).
3. relaxierende Musik

ad 2. Während der Behandlung:

1. Beruhigende Ausstrahlung des Zahnarztes
2. Anleitung zur Relaxation mit bewusster Wahrnehmung der Atmung, evtl. mit einem angenehmen Taktgeber (Glockenklang).
3. Musik. In diesem Fall ist die Auswahl von Musik wesentlich. Nach unseren Erfahrungen wirkt klassische Musik besser (18, 19) als elektronisch komponierte Musik (16). Es wird empfohlen, die Patienten zu befragen welche Musik sie bevorzugen würden und diese Wünsche zu berücksichtigen. Es können natürlich auch noch andere Entspannungstechniken eingesetzt werden, besonders in den Fällen, wenn Patienten damit bereits Erfahrung haben.

ad 3. Der Zahnarzt und sein Personal:

Wenn die Forderung gestellt wird, dass der Zahnarzt beruhigend ausstrahlend wirken soll, muss er über eine bestimmte psychische und körperliche Fitness verfügen. Dies kann er sich erhalten, wenn er ca. alle 1 ½-2 Stunden eine Pause einlegt und in dieser ebenfalls wie beschrieben relaxiert oder einen Minischlaf von 10 Minuten einlegt, der außerordentlich erholsam wirkt. Anleitung zum Erlernen des Minischlafs erhalten Sie in dem im Mai 2002 erscheinende Büchlein: K. Hecht (21), Guter Schlaf. Ullstein Bild-Verlag.

9. Patienten mit psychischen Störungen

In die Zahnarztpraxis kommen nicht nur psychisch Gesunde. Entsprechende Untersuchungen von Weiland und Smelczynski (18) mittels Neurosefragebogen nach Eysenck, sowie mittels Hautleitwert und Blutdruck ergaben, dass ihre Klientel (aus der stomalogischen Poliklinik der Berliner Charité) von 109 Untersuchten nur 51=47 % als „normal“ eingestuft werden konnten. Bei 58=53 % wurden in verschiedener Weise neurotische Störungen nachgewiesen.

Die Patienten unter schieden sich von den „Normalen“ auch in der Hautleitwertreaktion und in der Reaktivität beim Einspielen von klassischer Musik während der konservierenden Behandlung. Wenn auch die Untersuchungen nicht repräsentativ ist, so ist der Fakt aber beachtenswert.

In letzter Zeit wird den depressiven Patienten in der Zahnmedizin größere Aufmerksamkeit geschenkt, bei denen u. a. eine Vernachlässigung der Mundpflege, Desinteresse an vorbeugenden Hygienemaßnahmen der Mundhöhle und der Zähne besteht, sowie verlängerte Heilungszeiten bei chirurgischen Eingriffen nachgewiesen wurden (22, 23, 24, 25). Warman (26) fordert Verständnis für den psychotischen Patienten in der zahnärztlichen Praxis.

10. Schlussbemerkungen

10.1 Der emotionelle Stress ist also mehr als nur die Funktionen der Nebennieren und ihrer Funktionen. Emotioneller Stress, auch als emotionelle Aktivierung oder Beanspruchung funktioneller Prozesse zu charakterisieren, ist ein ganzheitlicher, biopsychosozialer Vorgang, in dem unzählige psychobiologische Parameter einbezogen sind.

10. 2 Emotioneller Stress ist als ein individueller Lebensprozess aufzufassen, der von Lebenserfahrungen, von individuellen Eigenschaften und vom psychischen Gesundheitszustand geprägt worden ist.

10.3 Der Zahnarzt muss davon ausgehen, dass jeder seiner Patienten sich in einem Zustand erhöhter emotioneller Aktivierung befindet. Die Angst vor der Zahnbehandlung ist hierbei ein nicht unwesentlicher Faktor, denn das Arzt-Patienten-Verhältnis einer stomatologischen Praxis unterscheidet sich beträchtlich von dem des allgemeinpraktizierenden Arztes und ist als komplizierter einzuschätzen. Es ist unbestritten, dass der Angstfaktor trotz außerordentlich starker Modernisierung der Technik noch immer den Weg zum Zahnarzt beschwerlich macht. Die häufig negative Einstellung zu Zahnarztkonsultationen kann seine Wurzeln auch in überlieferten Informationen haben. Die stomatologische Behandlung stellt eine besondere Form der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt dar. Sie ist für jeden Patienten ein Erlebnis mit starkem, überwiegend negativem Informationscharakter, der sich stark ins emotionelle Gedächtnis einprägen kann.

Häufig erst zeitlich nach der zahnärztlichen Behandlung sind die Zahnschmerzen beseitigt. Das Erlebnis mit positiver Bedeutung hat schwächeren Informationscharakter und wird von den Patienten häufig nicht mehr unmittelbar auf die stomatologische Behandlung projiziert. So sind zahnärztliche Behandlung, häufig auch die Person des Zahnarztes und das Schmerzgeschehen adäquat und werden in dieser Weise in das Gedächtnis einprogrammiert. Konkretes Erlebnis und überlieferte Informationen mit negativem Charakter über zahnärztliche Behandlungen bekräftigen die Entwicklung negativer Vorstellungen und Angst, die sich akut (während des Aufenthalts im Wartezimmer oder auf dem Behandlungsstuhl der zahnärztlichen Praxis) als emotionaler Stress äußert.

10.4 Ein Zahnarzt muss daher zur Optimierung des Arzt-Patienten Verhältnisses unbedingt Kenntnisse über Psychobiologie, über Neuropathophysiologie des emotionellen Stresses, über die große Palette der psychischen Störungen (ICDF) und über psychotherapeutische Praktiken verfügen.

Literatur:

(1) Selye, H. (1977): Stress: Lebensregeln vom Entdecker des Stress-Syndroms. Rowohlt, Hamburg.

(2) Hecht, K.; H.-P. Scherf; O. König (Hrsg.) (2001): Emotioneller Stress durch Überforderung und Unterforderung. Schibri Verlag, Berlin, Milow.

(3) Hecht, K.; H.-U. Balzer (2000): Chrono-Psycho-Biologische Regulationsmedizin und ihre Bedeutung für die Katastrophenmedizin. In: K. Hecht; H.-U. Balzer: Stressmanagement, Katastrophenmedizin, Regulationsmedizin, Prävention. Pabst-Verlag, Lengerich, Berlin, Riga, Rom, Wien, Zagreb, S. 109–133.

(4) Hecht, K. (1994): Gesund im Stress. Ullstein Verlag, Medicus, Berlin.

(5) Selye, H. (1953): Einführung in die Lehre vom Adaptationssyndrom. Thieme, Stuttgart.

(6) Cannon, W. B. (1914): The emergency function of the adrenal medulla in pain and major emotions. American Journal of Physiology 33, S. 356–372.

(7) Cannon, W. B. (1929): Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage. Appelton, New York.

(8) Cannon, W. B. (1932): The Wisdom of the Body. Narton, New York.

(9) Lindsley, D. B. (1951): Emotion. In: S. S. Stevens (ed.): Handbook of Experimental Psychology. Wiley, New York.

(10) Hecht, K. (2001): Chronospychobiologische Regulationsdiagnostik zur Verifizierung von funktionellen Zuständen und Störungen. In: K. Hecht; H.-P. Scherf; O. König (Hrsg.): Emotioneller Stress durch Überforderung und Unterforderung. Schibri Verlag, Berlin, Milow.

(11) Hecht, K.; St. Andler; St. Breinl; H.-J. Lander; M. Stück (2001): Objektive Kontrolle der Selbstentspannungsfähigkeit anhand von Zeitreihenmessungen des Blutdrucks und der Elektrodermalen Aktivität (EDA). In: K. Hecht; H.-P. Scherf; O. König (Hrsg.): Emotioneller Stress durch Überforderung und Unterforderung. Schibri Verlag, Berlin, Milow.

(12) Voigt-Spychala, C. (2001): Ein Versuch zur Messung der Zahnarztangst - Blutdruckweißkitteleffekt auch in der Zahnmedizin. Dissertation Med. Fak. (Charité) der Humboldt-Universität, Berlin.

(13) Jorken, St. M. B. (2001): Zeitreihenmessungen des Blutdrucks während einer zehnminütigen Relaxation - Eine Pilotstudie zum Weißkitteleffekt unter psychokardiologischen Aspekten. Med. Fak. der Humboldt-Universität zu Berlin.

(14) Ker, J. A.; C. J. Wyk; P. van Rheeder (1998): Ambulatory blood pressure monitoring - comparison with office blood pressure in patients on antihypertensive therapy in private practice. S. Afr. Med. J. 88, S. 133–139.

(15) Aylett, M. (1996): Use of home blood pressure measurements to diagnose “white coal hypertension” in general practice. J. Hum. Hypertens 10, S. 17–20.

(16) Buch, P. (2000): Pilotstudie zur stressenden Wirkung verschiedener Etappen einer konservierenden Zahnbehandlung und die Beeinflussung des Stresses durch Musik von Peter Hübner. Dissertation, Med. Fak. der Humboldt-Universität zu Berlin.

(17) Rodmerk, B.; O. Schuldzig (2001): Beschreibung des emotionellen Stresses unter chronobiopsychosozialen Aspekten während verschiedener Phasen der konservierenden Zahnbehandlung. Dissertation, Med. Fak. Univ. Greifwald (eingereicht).

(18) Weiland, E.; B. Smelczynsk (1985): Psychophysiologische und psychodiagnostische Untersuchungen zur Verifizierung von Stress während verschiedener Etappen einer konservierenden stomatologischen Behandlung. Dissertation, Med. Fak. Hunboldt-Universität zu Berlin.

(19) Linek, St. (1991): Untersuchung der Elektrodermalen Aktivität (EDA) während verschiedener Etappen konservierender Zahnheilung unter besonderer Beachtung des Neurozitismus. Dissertation, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

(20) Hocke, W. (1997): Stress während zahnärztlicher Behandlung - regulationsdiagnostische Untersuchungen mittels Hautwiderstandsmessungen. Dissertation, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

(21) Hecht, K. (2002): Guter Schlaf. Ullstein-Bild, Berlin.

(22) Della-Ginstina, V. E.; G. G. Forrest (1979): Depression and the dentist. Journal of the Georgia Dental Association 53/1, S. 15–17.

(23) Friedlander, A. H.; L. J. West (1991): Dental management of the patient with major depression. Oral Surgery, Oral Medicine and Oral Pathology 71/5, S. 573–578.

(24) Brown, R. S. (1991): Dental management of the patient with major depression. Oral Surgery, Oral Medicine and Oral Pathology 72/4, S. 443.

(25) Herzig, B. R.; Hr. R. Belkin (2001): Mood disorders in dental patients. Texas Dental Journal 118/3, S. 242–253.

(26) Warman, E. (1976): Understand the psychotic dental patient. Annals of Dentistry 35/1, S. 17–20.

 

Autor:

Prof. em. Prof. Dr. med. Karl Hecht

Büxensteinallee 25
12527 Berlin