Integrative Zahnheilkunde (Archiv)

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Stomatologe Neuraltherapie

Von Andrea Koglin

Einführung: Ein Plädoyer für stomatologe Neuraltherapie

Den Begriff „stomatologe Neuraltherapie“ entdeckte ich auf der Seite 11 des Buches „Störfeld und Herd im Trigeminusbereich“ von Dr. Ernesto Adler und wähle ihn als Titel für den folgenden Beitrag.

Dr. Jochen Gleditsch hat kürzlich in seinem Artikel „Therapeuten brauchen Idealismus und seelische Stabilität“, erschienen in der Zeitschrift für Komplementärmedizin 1/2009, Seite 26–28, über seine Langzeitbeobachtungen geschrieben, die er berufsbegleitend dokumentierte und Regelmäßigkeiten in den Phänomenen nach neuraltherapeutischen Injektionen im Mund- und Rachenraum seiner Patienten entdeckte.

Therapiemethoden mit Feingefühl passen zunehmend in die heutige Zeit, in welcher wir Zahnärzte zunehmend mit chronischen Belastungssyndromen, psychosozialen Problemen und teilweise erheblichen Ängsten seitens unserer Patienten konfrontiert werden. Die weise Benutzung des vegetativen Systems wird einmal den Hauptteil der ärztlichen Kunst ausmachen, lautet ein Zitat von Hering aus dem Jahre 1925. Alles deutet auf dessen nicht nachlassende Gültigkeit hin.

Neuraltherapie in der Zahnheilkunde

Neuraltherapeutische Injektionen lassen sich sehr gut in unseren Praxisalltag integrieren, man kann sie den Patienten auch in frequentierten Kassenpraxen ohne große Nebenkosten anbieten und erzielt dabei sehr gute Resultate insbesondere in der Schmerztherapie. Der Nutzen für den Patienten liegt unter anderem darin, dass er einen natürlichen Zugang zu komplementären Behandlungsformen erfährt und die sympathikolytische Wirkung dieser Methode am eigenen Leib erleben kann. Zudem lässt sich das Lokalanästhetikum Procain in Kombination mit den Fragen zur Anamnese und den Untersuchungstechniken bei Muskelverspannungen im Kiefergelenkbereich oder bei Blockaden der Kopfgelenke bei sonst spritzenängstlichen Patienten sehr gut zur Angstauflösung einsetzen. Sie fühlen sich besser aufgehoben, wenn man Hands-On-Techniken anwendet.

Der Zuwachs medizinischer Erkenntnisse hat sich in den letzten Jahrzehnten so beschleunigt, dass sich viele Spezialgebiete herauskristallisieren, die so recht nicht mehr zusammenkommen können. Die Neuraltherapie bezwingt diese Hürde und bringt Medizinrichtungen erneut in den Dialog. Die Anwendung einer Methode und eines Therapeutikums in fachübergreifender Form eignet sich vorzüglich zur Synthese, so wie es der aus vernetzten Regelkreisen bestehende Organismus vorgibt und erfordert.

Neuraltherapeutisches Gedankengut erfüllt praktisch alle Anforderungen an die Ganzheitlichkeit in der Medizin. Ihr Standort befindet sich in unmittelbarer Nähe zur so genannten wissenschaftlichen Medizin, lange waren wesentliche Inhalte wie die Kenntnis der Projektionszonen Bestandteil der praktischen Heilkunde. Zugunsten der Apparatemedizin droht jedoch vieles in Vergessenheit zu geraten. Über Gebiete wie Immunologie und Grundlagenforschungen zur Matrix lassen sich sicher bald die wenigen „Missing Links“ ermitteln, die zur offiziellen Anerkennung der Wirksamkeit dieser Methode noch fehlen.

Beschleunigte Zellregeneration der zu behandelnden Region, rascher Wirkungseintritt und die Herabsetzung der Schmerzempfindungen sind die vorrangigsten Ziele der zahnmedizinischen Initialtherapie bei pulpitischen Beschwerden und anderen aus unserem Fachbereich resultierenden Schmerzzuständen. Durch das Wissen um Störfelder und seine Auswirkungen auf den Organismus gilt es einen Langzeiterfolg zu sichern, der sowohl die Vitalerhaltung der Pulpa als auch den Zustand des periapikalen Gewebes und des gesamten Parodontes betrifft.

Zum Spektrum einer gewebsverträglichen Zahnheilkunde gehört die Frage nach Zusammenhängen zwischen oralen Infektionen und Allgemeinerkrankungen. Derzeit gehört dieses Gebiet wieder zu den bevorzugt bearbeiteten Forschungsthemen in der Zahnmedizin, dieses anerkennt man zu Recht zunehmend als ernsthaftes Problem. Es wiegt schwerer, als es Zahnärzten heute bewusst ist.

Lokalanästhetikum Procain

Der Einsatz des Procain bei der Ausschaltung pathologischer Afferenzen in das vegetative Nervensystem, insbesondere im viel bearbeiteten Zahn-Kiefersystem, und für das vegetative Grundsystem ist seit 1925 in umfangreichen Untersuchungen belegt worden (siehe auch Literaturdatenbank der IGNH unter www.literatur.ignh.de)

Frühe Verdienste der Herdforschung

Schon in den Jahren vor 1940 belegten Studien der deutschen Herdforschung, dass durch eine Regulationstherapie in Form der Sanierung von beispielsweise kranken Zähnen oder chronisch entzündeter Tonsillen eine allgemeine Entlastung des Organismus eintrat. Das wurde insbesondere deutlich bei rheumatischen Erkrankungen im Frühstadium, bei denen noch keine strukturellen Gelenk- Veränderungen festgestellt wurden.

Auch neuere wissenschaftliche evidenz-basierte Studien belegen den Zusammenhang zwischen krankhaften Veränderungen des Parodonts oder einer Anzahl von insuffizient wurzelbehandelten oder avitalen Zähnen mit schwerwiegenden Allgemeinerkrankungen wie z. B. der Herz-Kreislaufinsuffizienz oder Immunmangelerkrankungen, Allergiebereitschaft und Atemwegserkrankungen oder erhöhter Frühgeburtlichkeit.

Die Neuraltherapie trat das Erbe der oben genannten Herdforschung an und bedient sich ausschließlich in der Diagnostik und Therapie der Lokalanästhetika, insbesondere der 1%igen Procainlösung. Procain ist das nebenwirksamärmste und gewebeverträglichste Lokalanästhetikum, das auf dem deutschen Markt erhältlich ist (Quelle aus dem Jahr 2007, veröffentlicht unter
http://www.foerderverein-neuraltherapie.de/).

So wirkt Procain

Im Gegensatz zu Lidocain (gefäßkonstriktorisch) ist Procain gefäßdilatatorisch. Es gewinnt an Wirksamkeit durch seine sofort im Gewebe durch Verstoffwechselung anfallenden Zerfallsprodukte Paraaminobenzoesäure (PAB) und Diäthylaminoäthanol. Vermutlich handelt es sich aus genanntem Grund bei der Procaintherapie um eine Dreifachmedikation.

Die pharmakologischen Wirkungen von Procain sind:

  • gefäßerweiternd
  • kapillarabdichtend
  • antihistaminisch
  • perfusionssteigernd
  • sympathikolytisch
  • parasympathikolytisch
  • DNA-demethylierend
  • HMG-CoA-Reduktase-hemmend
  • antiphlogistisch (CRP-senkend)
  • immunmodulierend

Die Samaritan Pharmaceuticals in den USA hat Procainhydrochlorid (Sp01A) – vorgesehener Handelsname: Anticort – für die Indikation Imunmodulation und HIV bereits in die klinische FDA-Prüfphase II vorangetrieben.
Heine postuliert für die Gewebewirksamkeit von Procain einen Wirkmechanismus über das körpereigene Endokannabinoidsystem, weshalb man dieses Lokalanästhetikum in der Neuraltherapie seit Jahrzehnten äußerst erfolgreich bei neuropathischen Schmerzen einsetzt. Diäthylaminoäthanol, eines der beiden Stoffwechselprodukte von Procain, soll über kompetitive Rezeptormechanismen zur Stimulierung von nozizeptiven Fasern führen.

Procain optimiert die Selbstregulation

Die Hauptaussage ist, dass mit dem preiswerten, 101 Jahre lang erprobten Procain ein unspezifischer Reiz an Stellen des Systems (und zwar am kapillären Endstromgebiet) gesetzt wird. Dabei spricht der Reiz das System so an, dass er die Selbstregulation der vernetzten Regelkreise in Richtung Funktionstüchtigkeit optimiert. Genau das können kortikoidhaltige Präparate, die oft unspezifisch zur Behandlung chronischer Entzündungszustände eingesetzt werden, nicht gewährleisten. Sie unterdrücken die Abwehr der Erreger und können zu Misserfolgen sowohl in der Pulpitistherapie als auch in der Endodontie führen, in Abhängigkeit von der Zeit der Einwirkung, der Konzentration und der Konstitution des Patienten.

Es gibt von der Firma Dentsply (Dentsply DeTrey GmbH, 78467 Konstanz http://www.dentsply.de/) seit einiger Zeit ein Lidocain- und Prilocainhaltiges Gel (Oraqix), das bei Parodontalkürettagen durch Tascheninstillation eine Schmerzausschaltung herbeiführt. Es handelt sich dabei im eigentlichen Sinne auch um ein neuraltherapeutisch wirksames Vorgehen, wenn auch unbeabsichtigt. In seinem Fokus steht die Anästhesie. Eine rezidivfreie Ausheilung der Parodontitiden durch den Einsatz des Gels dürfte viel schneller und nachhaltiger vonstatten gehen als bei herkömmlichen Methoden mit antibiotisch wirkenden oder desinfizierenden Mitteln (CHX- Anwendung und die berüchtigte Full Mouth Desinfection).

Die Gründe dafür liegen in der Förderung der autoregulativen Gewebsreaktionen und in der Herbeiführung einer besseren Gewebsperfusion. Anwender des Oraqix sollten das beobachten, es weitergeben und bedenken, dass hier viel mehr als die reine oberflächliche Lokalanästhesie wirksam ist.

Bei der Ausheilung marginaler Parodontitiden bewähren sich zudem begleitende Procaininjektionen in die Wurzelspitzen- und Interdentalpapillenregion der betreffenden Areale durch ihre gefäßdilatierende und zirkulationssteigernde Wirkung.

Studien zu Procain

Bereits 1954 wurde an der Universität Greifswald eine Dissertation von Matthias Thiede verteidigt zum Thema „Die therapeutische Anwendung des Novocain (Procain) in der konservierenden Zahnheilkunde“. Seine Studie belegt,  dass durch Procainisierung des Gewebes am Periapex des Zahnes (Injektionen einer 2%igen Lösung) eine rezidivfreie Heilung von reversiblen Pulpitiden möglich ist. Die Wirkung beruht auf einer Unterbrechung pathologischer afferenter Reize in die Trigeminusäste.

In 73 Fällen einer Karies-profunda-Therapie mit einer nicht-purulenten Pulpitis wurden mit 75%igem Erfolg die Zähne klinisch und röntgenologisch vital erhalten, auch nachhaltig. Es wurde unter Beseitigung des exogenen Ursachenkomplexes (der Exkavation der kariösen Massen) und indifferentem Verschluss der Kavität eine Injektionsbehandlung mit Procain in mehreren Sitzungen durchgeführt. In der mit Procain unbehandelten Vergleichsgruppe wurden in Abhängigkeit von der Intensität der bestehen gebliebenen, störenden Impulse festgestellt, dass Rezidive zu einer hohen Anzahl endodontischer Eingriffe führte. Durch die chronischen Reizzustände des entzündeten Gewebes kam es zudem zu Beobachtungen, die die Neuroplastizität des Nervensystems belegen.

Fazit:

Man könnte noch viele andere Gesichtspunkte zur Wirksamkeit des Procains in der Zahn- Mund- und Kieferheilkunde benennen – etwa den Einfluss auf die recht frühzeitig einsetzenden regressiven Metamorphosen des eng eingeschlossenen Pulpagewebes durch die Verbesserung der Perfusion, oder den Einfluss gerade dieses Anästhetikums als idealer Impulsgeber bei neurogenen Reizzuständen. Leider wird oft mit endodontischen Behandlungen bereits begonnen, bevor die Genese von Schmerzen eindeutig bestimmt worden ist, beispielsweise bei Schmerzen des Oberkiefer-Seitzahngebietes bei einer bestehenden Sinusitis maxillaris.

Hier ist es sinnvoll, sich als Zahnarzt mit den Projektionszonen- und Symptomen auszukennen, Palpationstechniken zu beherrschen und regulationsmedizinisches Denken anzuwenden. Immerhin geht es hier um das Vermeiden potentieller Störfelder. Ein Zahn, der nicht ursächlich an einer Schmerzsymptomatik beteiligt ist, sollte iatrogen keinen Schaden nehmen.

Kenntnisse aus der Neuraltherapie anzuwenden bedeutet auch, eine beginnende craniomandibuläre Dysfunktion ursächlich mit Mitteln zu therapieren, die einfacher, billiger und nachhaltiger zum Ziel einer rezidivfreien Muskelentspannung führen (Stichwort Sympathikolyse). Dabei ist es wichtig, wie wir Störfelder im Trigeminusbereich diagnostizieren (z. B. Adler-Langersche Druckpunkte bestimmen) und auch schon im Vorfeld im Rahmen der Prophylaxe beseitigen. Eine gelenkbezügliche Vermessung und Schienentherapie bei Vorliegen von retinierten und verlagerten Weisheitszähnen z. B. stellt keine kausale Therapie dar.

Meiner Meinung nach sollten neuraltherapeutische Methoden im Zusammenhang mit der Anerkenntnis des Procains als bewährtes Arzneimittel Einzug in den offiziellen Medizin- und Zahnmedizinalltag halten.

Fangen wir einfach an, etwas umzustellen.
Unsere Methoden setzen sich nur durch, wenn wir sie auch anwenden.

Autorin:

Dipl. stom. Andrea Koglin
Zahnärztin

Lange Str. 38
D-17489 Greifswald

Tel.: 03834.894695 

koglin.greifswald@t-online.de